Hans Blüher: Der Kulturrevolutionär der männerbündischen Jugend Drucken


Geschrieben von: Daniel Bigalke
Montag, den 17. Oktober 2011 um 10:39 Uhr

Einsam und vergessen verstarb 1955 in Berlin-Hermsdorf ein Schriftsteller, der das Verhältnis von Politik und Männlichkeit um 1900 neu definierte und sein Leben lang ein dorniges und nicht immer erfolgreiches, dafür aber konsequentes Schriftstellerleben führte. Es ist der Philosoph Hans Blüher (1888-1955), der sich selbst als konservativen Revolutionär bezeichnete. Schon als Jugendlicher entwickelte er seinen eigenen Schreibstil, dessen versierte und provokante Art von einem messerscharfen Geist zeugte.

Dies brachte Blüher nicht immer Erfolge. So verließ er etwa die Universität wegen polemischer Schriften ohne Abschluß, konnte dafür aber umso mehr sein Leben eines zielsicheren Schriftstellers und notfalls auch Einzelgängers verwirklichen. Seine Leistungen indessen wurden nur von wenigen Kennern gewürdigt. Darunter befinden sich die Schriftsteller Thomas und Klaus Mann sowie Franz Werfel und Franz Kafka. Auch die Dichter Gottfried Benn und Rainer Maria Rilke pflegten Kontakte zu Blüher.

Geschätzt von Rilke und Kafka

Rilke verband wiederum eine Freundschaft mit dem vor Verdun gefallenen Gelehrten Norbert von Hellingrath, dem Herausgeber der ersten Hölderlin-Gesamtausgabe. Hellingrath ist in den Augen Rilkes der „Hölderlin-Lehrmeister". Er wird zum Mentor in allen Fragen über den Dichter der Deutschen. Auch Hans Blüher als politischer und philosophischer Schriftsteller dürfte wohl für Rilke wesentliche literarische Anregungen gegeben haben.

Blüher war seinerzeit und ist heute insbesondere bekannt durch seine theoretische Verknüpfung der sozialen Erscheinungsformen des Männerbundes und der damals noch neuen Jugendbewegung. Das Standardwerk zur „Konservativen Revolution“ von Armin Mohler stellt fest, daß von einer Rezeption Blühers nur bedingt gesprochen werden könne. Dies ist wohl auch darauf zurückzuführen, daß Blühers Werk von Textverlusten geprägt ist. So ist nicht klar, wo etwa die umfangreiche Korrespondenz des Autors sowie die Registratur des von Wolf-Heribert Flemming angelegten „Hans-Blüher-Archivs“ liegen. Es zeugen nur die umfassenden vorhandenen Schriften Blühers davon, daß sein Wirken damals wie heute von besonderer Strahlkraft in Literatur, Dichtung und Forschung in Deutschland ist.

Das mann-männliche Eros

„Der Auftrag an den einzelnen Denker, der auch jedes Mal eine neue Inkarnation ist, liegt darin, unter dem freien Drucke des Welthintergrundes ein Gedankengebäude wie aus dem Urgestein herauszumeißeln, das Auskunft über den Bau der Welt und deren Bedeutung gibt.“ Dies schrieb Blüher in seinem Schluß- und Hauptwerk Die Achse der Natur. Danach richtete er sich dauerhaft und wurde nicht müde, den Bau der Welt erklären zu wollen. In seinem Frühwerk schrieb er die erste umfassende Geschichte der Wandervogelbewegung, die er als jugendliche Revolution einordnete. Er entwarf furchtbare Theorien zur wahren Männlichkeit bis hin zu der Erkenntnis, daß die Homosexualität als höchster Zustand des Menschseins zu preisen sei. Dies brachte ihn in Konflikt mit Sigmund Freud, dessen Kontakt er suchte, der jedoch nicht davon abrückte, daß Homosexualität dem Krankheitsbegriff zuzuordnen sei.

Das mann-männliche Eros galt Blüher als Grundlage von Staat und Gesellschaft, was als Theorem wiederum zumindest auf die erwähnten Personen wie Thomas Mann, Gottfrid Benn oder Rainer Maria Rilke großen Eindruck ausübte. Entsprechend forderte Blüher die Straffreiheit der Homosexualität, die er im Gegensatz zu Freud als menschliche Veranlagung und damit immer wiederkehrende anthropologische Konstante wertete. Die männlich-weibliche Beziehung diene der Gründung von Familie.

Der Männerbund als Grundlage des Staates

Die männlich-männliche Beziehung hingegen sei Ursprung des Männerbundes und fernerhin der Staatenbildung. Der Staat ist für Blüher das Dauerhafte und jahrhundertelang Währende, in dem das Führerprinzip in Gestalt des Königs herrschen müsse. Das wahre Problem eines Volkes und moderner Staaten sei nicht die wirtschaftliche Not, schrieb Blüher 1919. Es könne auch nicht durch irgendeinen Sozialismus gelöst werden. Es bestehe vielmehr in der Lebensnot seiner geistigen Männer. Es sei tiefste Korruption, verfalle der Staat und die Macht den Händen der Zweckverbände und nicht in die Obhut des Männerbundes. Dieser müsse gefühlt, erlebt und geglaubt werden. Ihm habe ein gesunder Staat sein Gedeihen zu verdanken.

Damit nahm Blüher für sich in Anspruch, die Menschheitsgeschichte auf eine neue Basis gestellt zu haben: Er deutete Kulturleistungen und Staatenbildungen als Resultate männerbündischer Zusammenschlüsse. Blüher war mit diesen frühen Thesen und als Vertreter der Konservativen Revolution ein Seismograph für Spannungsfelder in der Moderne und wirft als erster die „Frauenfrage“ auf. Es versteht sich von selbst, daß er die Emanzipation der Frau ähnlich wie schon Otto Weininger ablehnte.

Die Psychologie der Frau und des Mannes mitsamt ihren Zielsetzungen im Leben seien konsequent getrennt von einander zu behandeln. Die von Blüher proklamierte Kulturrevolution sollte eine Bewegung der männerbündischen Jugend gegen ihre Väter sein. Seine Mitstreiter stehen für ein Prinzip, das sich seit dem siebzehnten Jahrhundert als wirksam erwiesen habe, nämlich daß die Politik nicht nach dem Modell der Familie zu organisieren sei. Daß Blüher neben eindeutigen Anlehnungen an Weininger, Schopenhauer und Nietzsche auch das Werk des väterlichen Freundes Benedikt Friedlaender (Die Renaissance des Eros Uranios) für sich verwendete, erkannte ein polemisches Traktat erst 1930. Dies änderte aber nichts an der Wirksamkeit der frühen Schriften Blühers.

Die Unwissenschaftlichkeit im Umgang mit Blüher

Immer wieder regte Blüher zum Widerspruch an. Viele heutige Schriften über sein Werk wie etwa die Studie Politik des Eros (2008) von Claudia Bruns betrachten die Gedanken Blühers nicht aus ihrer Zeit heraus. Sie sind Ausdruck normativ-gebundener Wissenschaft, die Blüher vorrangig „Unwissenschaftlichkeit“ vorwerfen. Dies ließe sich jedoch dadurch entkräften, daß Blüher gar kein Wissenschaftler im heute verstandenen profanen Sinn sein wollte, sondern Mystiker, der gemäß seinem eigenen Anspruch unter dem freien Drucke des Welthintergrundes eigene Bilder der Welt zeichnet. Dies merkt man an seinem späten Werk Die Achse der Natur besonders. Es erschien zu einer Zeit, als die Bundesrepublik schon bestand und Blüher in Berlin-Hermsdorf vereinsamt und zurückgezogen als Autor und Psychotherapeut lebte.

Nachdem seine Wandervogel-Monographie die Gemüter erregte und ihn zu einem bekannten Schriftsteller reifen ließen, erreichte sein letztes Werk Die Achse der Natur (1949) eine desinteressierte Öffentlichkeit. Wohl aufgrund einer stillschweigenden Übereinkunft sah er während der NS-Zeit von Publikationstätigkeiten ab und widmete sich der Abfassung dieses letzten Buches.

Blüher und die geistige Wende mit einer antimodernistischen Metaphysik

Blüher kann hier mit Kant in eine Reihe gerückt werden, denn er leitet eine ähnliche Wende im Denken ein, wie Kant mit der Kritik der reinen Vernunft. Abgewendet von seinen frühen Themen unternimmt Blüher in seiner antimodernistischen Metaphysik nunmehr den Versuch, den Subjektivismus der Moderne, ihren grenzenlosen menschlichen Machbarkeitswahn philosophisch zu überwinden, um die Achtung vor der Natur zu erhöhen. Das Buch steht damit von seiner Bedeutung her noch vor der später erschienenen Ausgabe seines 1926 zuerst erschienenen Buches Traktat über die Heilkunde (1950). Dies ist eine Metaphysik der Neurose mit Bezügen zur Psychoanalyse und Homöopathie, die die Krankheiten eines Menschen als etwas Heiliges anerkennt, welches das Wesen des Menschen ausmache und als Spezifikum einzigartige Gründe und Ausprägungen habe. Das Traktat beeinflußte viele Alternativmediziner, Homöopathen und Psychotherapeuten.

Blüher nun vertritt in seinem letzten Werk über die Achse der Natur die These, daß die Natur ebenso wie die Erde eine Achse habe. Er beweist dies, indem er schreibt: „Es handelt sich hier nicht um eine ‚tiefere Einsicht‘ oder eine ‚Vertiefung‘ der Natur, (…) vielmehr um die Anwendung der Tiefendimension auf das Denken über die Natur, wobei die empirische Außen- und Innenwelt die ‚Fläche der Natur‘ oder die erste und zweite Dimension sind.“ Blühers Formel lautet: Natur ist ein transzendentales Kontinuum. Sie hat eine Achse, deren einer Pol im transzendentalen Subjekt, im Menschen, verankert liegt, der andere im transzendentalen Objekt, der Natur.

Die umgekehrte Kopernikanische Wende

Das Werk vertritt eine umgekehrte Kopernikanische Wende: Diesmal nicht wie bei Kant vom Objekt zum Subjekt, wonach die Erscheinungswelt sich im Menschen selbst konstituiere, sondern umgekehrt vom Subjekt zum Objekt hin. Kurz: Die moderne Philosophie und ihr überschätztes Subjekt müssen einen wesentlichen Bestand ihrer Kapazität an das Objekt – die Natur – zurückerstatten. Erkenntnis macht der Mensch sich nach Blüher nicht notwendig selber, sondern sie ist ein Vorgang der Natur selbst. Selbst die Ethik sei nicht ausschließlich aus Vernunft abzuleiten, sondern aus dem Metaphysischen, welches sich aus der Energie der Natur speise. Auch die Religion sei „reines Ereignis der Natur“. Blüher erkennt im Bau der Welt eine Ordnung, die mit Verstandeskräften allein nicht zu fassen sind. Sie müssen wahrgenommen werden mit den geistigen Organen der Erkenntnis, zu denen er auch den „Eros“ zählt. Zugleich stellt er heraus, daß die Kulturleistungen des Menschen nicht ohne Gott denkbar sind.

Interessant ist Blühers Interpretation des Christentums. In den Religion und Christentum gewidmeten beiden letzten Großkapiteln bestimmt Blüher den natürlichen Ursprung aller Religionen in ihrer helfenden Funktion. Er vertritt aber auch eine antike Weltanschauung, wenn er die menschliche Natur selbst vergöttlichen will. Blüher verbündet sich – auch in seinem Spätwerk – mit der christlichen Theologie, ohne selbst zum Fürsprecher einer konkreten Theologie zu werden. Damit gelingt ihm gerade hier eine religiös unvoreingenommene Proklamation des Primates der Natur, die ihn als den Mystiker aufscheinen läßt. Diese Mystik hält er der Katheder-Wissenschaft entgegen.

Was bleibt von Blüher?

Blüher bleibt der große deutsche Querdenker und Mystiker der Neuzeit, der alle Spannungsfelder in Politik, Gesellschaft und zwischen den Geschlechtern ergründete. Er gibt der Natur ihre Bedeutung zurück und ist neben seiner Rolle als Theoretiker des Männerbundes letzter Repräsentant eines philosophischen und psychologischen Universalwissens, welches seinesgleichen sucht. Ernst Jünger schrieb über ihn 1985 in der Zeitschrift Scheidewege: „Ich saß bei guter Wärme auf einer aus Lava gehauenen Treppe, aus deren Fugen das Venushaar wucherte. Warum kam mir dabei Hans Blühers ‚Achse der Natur‘ in den Sinn, und das geringe Echo, das diesem vortrefflichen Werk zuteil wurde?“

Der Pädagoge und Schulmeister in Eutin und Danzig, Rudolf Kneip, der bis in die fünfziger Jahre hinein auch in der DDR wirkte, schrieb 1928 als Vertreter der Sächsischen Jungenschaft, daß Blühers Gedanken Selbstverständlichkeiten geworden seien. So sind bis in die Gegenwart hinein neben viel Abneigung stets auch viel zustimmende Worte zum Wirken Blühers vorhanden. Allein dies bezeugt Blühers ungebrochene Strahlkraft und Aktualität.

hier via Blaue Narzisse